Im Booklet der vorliegenden Compilation findet sich ein Gedicht, in dem die Zeile „In the Cities of your Eyes“ vorkommt, der Verfasser ist der syrische Dichter Nizar Qabbani, und man kann kaum umhin, diese wenigen Zeilen über die Heimatlosigkeit und die Suche auf die Menschen in den Flüchtlingscamps auf den griechischen Dodekanes-Inseln zu übertragen, denen der Sampler gewidmet ist. Um welche Städte es da wohl geht – kündet der Vers von der Erinnerung an die Orte der Herkunft, die sich unverkennbar in die Gesichter der Geflohenen eingebrannt hat? Oder eher von der Sehnsucht nach den unbestimmten Orten der Zukunft, falls man sie denn je erreichen wird? Manchmal hat es sicher mehr Sinn, eine Frage im Raum stehen und einen Satz für sich wirken zu lassen. „In the Cities of your Eyes“ ist ein Benefizprojekt, dessen Erlös der Versorgung dieser Camps v.a. mit Lebensmitteln zukommt. Einige beigelegte Texte von Organisationen geben einen Einblick in die Situation vor Ort und den Alltag und die Gefühle der Menschen dort.
Der Sampler, dessen Teilnehmer der Geste nach wie eine Band auftreten, enthält dreiundzwanzig Stücke und ist abgesehen vom Anlass auch ein beeindruckendes Stück guter Musik. Bei aller stilistischen Breite gibt es doch eine gewisse Kohärenz, und bei einer Kuratorin wie R. Loftiss, Betreiberin des AntiClock-Labels und Mitglied bei The Grey Field Recordings, Karyae und Howling Larsens, heißt dies, das eine getragen Stimmung, ein Hang zum Experiment und zu erdiger Psychedelia Programm sind. All dies kann in songorientierter – und das heißt im weitesten Sinne auch: folkiger – oder in flächig-abstrakter – vulgo: ambienter – Machart vorliegen, und in diesem Sinne könnte man die meisten der Songs tatsächlich unterteilen. Umso schöner, dass die Beiträge schön durchmischt sind und es außerdem ein paar Ausnahmen gibt.
In den etwas abstrakteren Beiträgen überwiegt dunkles, vielschichtiges Dröhnen, und vielleicht sind das dunkle Dronebrett von Yannick Franck, der okkult untermalte Synthiedrone der Amerikaner Book of Shadows, der melodische Gitarrenambient von Elektronik Meditation und das einlullende, sich stetig intensivierende Vibrato des deutsch-griechischen Duos Amboo die repräsentativsten Beiträge dieser Art. Eher dem Experiment verpflichtet sind Lüüp mit verhuschtem Sopran und klavierlastigem Ambientsound, die analog bearbeitete Live-Elektronik von Palace Lido, der rau gehaltene Dub von J. Greco alias S.Q.E., das im Klagegesang endende Stück von Nikos Fokas und das mit Flöten und Tenorsaxophon ergänzte Drone von TraumaSutra und Peter Geysels.
In eine eher hörspielartige Richtung geht das von gespenstischem Flüstern geprägte Stück „Skein“ von Pylae sowie die auf verfremdeten Folksounds basierende Kollage von Susan Matthews und Rainier Lericolais. Die Higlights der eher soundorientierten Beiträge sind m.E. die Stücke von Cindytalk und The Grey Field Recordings. Während erstere mit einfachen Mitteln wie infernalischen Himmelschören und dem Rasseln von Hihats eine ungemein intensive Atmosphäre erzeugen und in so etwas wie Noiserock enden, evoziert Loftiss’ eigener Beitrag mit TGFR mit dem steten wellenförmigen Sound die Vorstellung eines ungewissen Meeres, wobei die die immer wiederholte Frage „Are you safe?“ von mal zu mal eindrücklicher und konkreter anmutet.
Auch wenn die Songs nicht alle direkt das Flüchtlingsthema zum Inhalt haben, spielt das Meer in vielen der Texte eine zentrale Rolle, und wenn es nicht das Meer ist, dann Sujets der Reise, der Strapaze, des Wohnens und Ankommens. Ein besonderes eindringliches Beispiel und zugleich eines der Stücke, die zwischen den eher ambienten und den songorientierten Beiträgen stehen, ist das großartige „Where All The Lost Belong“ der aus Liz und Martyn Bates und wieder Loftiss bestehenden Karyae. Über Harmonium und Spieluhr sing eine charismatische Frauenstimme eine Hymne auf die Gemeinsamkeit – „My sun is your sun, my soil is your soil, my sea is your sea“. Wie viele Nico-Vergleiche wird es da wohl geben? Ebenfalls in Grenzbereich zwischen Song und Soundscape verortet sind das vokallastige Stück von Sandfinger und das an Filmmusik der 70er, aber auch etwas an Orchis gemahnende Stück von The Hare and the Moon.
Immer noch experimentell, aber nur oberflächlich zerfleddert und daher den Songs zuzurechnen ist das von allerhand Tremoli unberechenbar gemachte „The Universe Is Falling Apart“ von Spires that in the Sunset Rise. Hier quietscht und rumpelt es, wie nur die schräge amerikanische Frauenkappele es hinbekommt, und sei es auch nur noch als Duo. Mit „Smile In Your Sleep (Hush, Hush)“ haben die Howling Larsons (wieder R. Loftiss, hier zusammen mit Alan Trench) ein doppelbödiges Lullaby abgeliefert, das den Zynismus der Flüchtlingsschicksale vielleicht mehr als jeder andere Beitrag einfängt. Unabhängig vom Thema sollte der Song allen gefallen, die guten Neofolk schätzen und dabei den guten alten Stock im Arsch nicht obligatorisch finden.
Medienkritisches gibt es im erdigen Post Punk-Song von Edward Ka-Spel, tief emotionales in den Stücken von Martyn Bates und Dimitris Panas, düster-allegorisches im elektrisierenen „The Blood Red God“ der großartigen Stone Breath: Mit ihrer fatalistischen Hymne auf einen destruktiven Gott, wie ihn kein Georg Heym besser hätte evozieren können, beweist die Gruppe um Timothy Renner einmal mehr, dass sie eine der besten Bands auf diesem Planeten sind, Schande über alle, die sie nicht kennen. Alan Trenchs Tempel Music liefern den (space-)rockigsten Beitrag der Sammlung ab, mit dem repetitiven Text über jene, die zur See gehen, erscheinen die Heimatlosen wie Ahasvers, der fliegende Holländer oder der Ancient Mariner, und der Song gerät zu einem kleinen Denkmal für alle Outcasts.
Es gibt selten Compilations ohne überflüssiges Material, doch hier ist dies tatsächlich der Fall, und somit kann „In the Cities of your Eyes“ sich fast mit der (m.E. etwas zu umfangreichen) „Not Alone“-Box messen, die David Tibet und Mark Logan seinerzeit für Ärzte ohne Grenzen kuratiert hatten. Bedauerlich übrigens, dass es immer schwieriger wird, solche Projekte auf CD oder gar LP zu realisieren. Sei’s drum, die Sammlung sollte auch als Bandcamp-Download schon musikalisch jeden ansprechen, der dunkle Psychedelia mag, das Introvertierte nicht scheut und ein Faible für entdeckenswerte Geheimtipps hat. (U.S.)